
Münster: Eine Max-Planck Forschungsgruppe bringt neues Licht in die Signale, die Zellen während der Bildung neuer Blutgefäße austauschen.
Von der Kopfhaut bis zu den Zehennägeln, vom Herzen bis in die Fingerspitzen: Blutgefäße durchziehen unseren gesamten Körper. Wie Autobahnen, Feldwege und Trampelpfade bilden sie ein Versorgungsnetz für die Körperzellen. Das Blut in ihnen liefert Sauerstoff für die Energiegewinnung und alle Grundstoffe für das Wachstum und die Funktion der Zellen.
In Erwachsenen erstreckt sich dieses Netz über tausende von Kilometern. Feinste Kapillaren reichen bis nahe an die einzelnen Zellen in jedem Gewebe.
Der Begriff Angiogenese bezeichnet die Entwicklung neuer Blutgefäße im Embryo sowie im ausgewachsenen Mensch oder Tier. Im wachsenden Embryo ist das Herz-Kreislauf System ist das erste funktionierende Organsystem und es entwickelt sich ein Leben lang.
So wie neue Pfade dort entstehen, wo viele Menschen laufen, bilden sich neue Blutgefäße dort, wo Gewebe besonders viel Nähr- und Sauerstoff verbrauchen. Hungernde Zellen senden Signale in ihre Umgebung. Bestehende Blutgefäße empfangen diese Signale und bilden Knospen, aus denen neue Arterien und Venen auswachsen.
Ralf Adams und seine Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster konnten jetzt erstaunliche Forschungsergebnisse zu den Abläufen während der Angiogenese im Fachjournal Nature Cell Biology veröffentlichen. Sie beobachteten die Zellen an der Spitze entstehender Arterien, der Blutgefäße, die sauerstoffreiches Blut vom Herzen in die Gewebe transportieren. Ihre elegante Studie enthüllt neue Funktionen einiger alter Bekannter.
VEGF-A signalisiert Sauerstoffmangel
Ein bekanntes wichtiges Signal für Sauerstoffmangel in einem Gewebe ist der Wachstumsfaktor VEGF-A. Er bindet an den Rezeptor VEGFR2 auf der Zelloberfläche. Empfangen Zellen eines bestehenden Blutgefäßes VEGF-A Konzentrationen über einem Schwellenwert, so bilden sie fadenförmige Fortsätze, die Filopodien. Die Zellen, die zuerst auf das Signal reagieren, bilden die Spitze der Knospe, aus der eine neue Ader entsteht. Sie werden auf Englisch “Tip Cells”, also Spitzenzellen, genannt. Die Tip Cells ziehen sich mithilfe ihres Zellskeletts und der Filopodien voran in Richtung des VEGF-A Signals. Nachfolgende Zellen bilden den Plexus, das Geflecht aus sprießenden Adern. Treffen sich Tip Cells und berühren sich mit ihren Filopodien, verbinden sie sich zu einem neuen Blutgefäß.
Ralf Adams und seine Arbeitsgruppe konnten jetzt in aufwändigen Experimenten beobachten, wie einige Zellen umkehren und gegen die Wachstumsrichtung in das neu entstehende Gefäß einwandern.
Notch1 bestimmt die Identität
Anhand einer genetischen Markierung mit dem grün-fluoreszierenden Protein (GFP) können sie sicher sagen, dass die rückwärts wandernden Zellen von den Tip Cells abstammen. Im wachsenden Blutgefäß bilden sie dann einen Teil der Auskleidung, des Endothels. In ihren Experimenten konnte die Gruppe auch zeigen, dass die Aktivierung des Rezeptors Notch1 die rückwärts gerichtete Wanderung der Zellen auslöst. Notch1 ist ein alter Bekannter in der Entwicklungsbiologie mit vielfältigen Funktionen während der Embryogenese und in Wachstumsprozessen wie der Angiogenese.
Tip Cells tragen auf ihrer Oberfläche ein Protein namens DLL4 (Delta-like 4). DLL4 ist ein Ligand für Notch1. Das heißt, wenn DLL4 an einen Notch1-Rezeptor bindet, wird der Rezeptor aktiviert und sendet ein Signal in das Innere der Zelle.
Bisher hatten Experten auf dem Gebiet der Angiogenese angenommen, dass die Tip Cells mithilfe dieses Signals an benachbarte Zellen ihre eigene Spitzenposition an vorderster Front des sprießenden Gefäßes behaupten. Die neuen Ergebnisse der Münsterer Forscher zeigen aber, dass Tip Cells auch ohne DLL4 die Spitze des wachsenden Gefäßes bilden. Sie werden nicht von nachfolgenden Zellen überholt oder verdrängt. Schalteten die Wissenschaftler aber in den Tip Cells ein Molekül ein, welches einen aktiven Notch1-Rezeptor nachahmt, so fanden sie die Zellen einige Tage später gehäuft im Inneren der wachsenden Arterie. Auf diese Weise reifen die neugebildeten Arterien während der Plexus sich weiter ausbreitet.
Diese Beobachtungen führte Ralf Adams und seine Mitarbeiter zu einer neuen Interpretation der Rolle von Notch1 in der Angiogenese: Das Signal des aktiven Notch1-Rezeptors scheint in der Zelle einen Schalter umzulegen, der ihre Entwicklung steuert. Die von Tip Cells abstammenden Zellen werden daraufhin zu Endothelzellen der entstehenden Arterie. Adams und Kollegen nennen dieses Umschalten einen “Fate Switch”, einen Schicksalsschalter.
CXCR4 gibt die Richtung an
Ein wichtiger Richtungsweiser für das Wachstum neuer Gefäße ist das Molekül CXCL12. Die Tip Cells tragen einen Empfänger für dieses Molekül auf ihrer Oberfläche, und zwar auf der Seite, zu der sie die Filopodien ausstrecken und zu der sie sich bewegen. Der Rezeptor heißt CXCR4. Auch er ist unter Experten gut bekannt und häufig dort anzutreffen, wo Zellen sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Die genetischen Experimente der Gruppe um Ralf Adams zeigen, dass das VEGF-A Signal die Konzentration von CXCR4 auf der Zellmembran beeinflußt. Dieser Zusammenhang war bisher nicht bekannt. Er ist Hinweis darauf, dass der Wachstumsfaktor VEGF-A die Entwicklung neuer Blutgefäße auf vielfältigere Weise bestimmt, als bisher angenommen.
Die Forscher beobachteten zudem ein erstaunliches Phänomen:
Nachdem einige der Zellen umgekehrt sind, um in den Plexus einzuwandern, tragen sie den Rezeptor CXCR4 auf der Seite die in die Richtung weist, in der sie sich jetzt fortbewegen. Im Vergleich zu den Tip Cells, von denen sie abstammen strecken sie ihre Antennen also in die entgegengesetzte Richtung aus. “Ob sie dabei nur dem gleichen Liganden folgen, also CXCL12, oder auch einem anderen, wissen wir nicht,” sagt Mara Pitulescu. Sie ist Erstautorin der Studie und hat viele der im Nature Artikel präsentierten Experimente entworfen, geplant und durchgeführt.
Forscherin aus Leidenschaft
“Unsere Ergebnisse liefern erst den Auftakt für viel spannende Forschungsarbeit,” sagt Pitulescu. Sie kann sie sich zum Beispiel vorstellen, nach Molekülen zu suchen, die Notch Signale modulieren um die Therapie bestimmter Krankheiten zu verbessern. “Interessanterweise zeigen unsere Experimente ja, das Zellen auch dann noch auf Notch-Inhibition reagieren, wenn wir das VEGF-A Signal blockieren.” Die VEGF-A Signalkette zu blockieren ist eine gängige Methode, um neovaskuläre Erkrankungen zu behandeln. Dazu gehören beispielsweise die Makuladegeneration, die älteren Menschen erblinden lassen kann sowie die Tumorbildung bei Krebserkrankungen. Die Behandlung ist nicht immer erfolgreich, weil die verfügbaren Medikamente nur bedingt wirksam sind und zahlreiche Nebenwirkungen haben. “Aufgrund unserer Erkenntnisse sollten wir unser Augenmerk verstärkt auf das Notch-Signalling bei Therapie-resistenten Patienten richten,” so Pitulescu.
Spannend findet sie auch den Vorstellung, “neue Moleküle zu finden, um arterielle Zellen zu induzieren – zum Beispiel durch therapeutische Notch-Aktivierung.” So könnte zukünftig Arterienwachstum stimuliert werden. Zahlreichen Patienten mit verletzten oder beschädigten Blutgefäßen könnten eine solche regenerative Therapie helfen.
Die gebürtige Rumänin lebt seit 2008 in Münster und hat zwei kleine Kinder. Als das zweite kam, war die jetzt veröffentlichte Studie schon voll am Laufen. “Wir wollten weiterkommen,” erzählt Pitulescu. Also koordinierte sie von zu Hause aus die Experimente.“ Ich hatte sehr viel Unterstützung von meinen Kollegen und Kolleginnen, ohne sie wäre das nicht möglich gewesen.” Als sie nach sechs Monaten ins Labor zurückkehrte, konnte ihr Mann Elternzeit nehmen. “Jetzt gehe ich eben etwas später zur Arbeit,” ergänzt sie. “Und zum Glück haben wir hier sehr gute Kinderbetreuung mit flexiblen Öffnungszeiten.” So gelingt es ihr, die anspruchsvolle Arbeit in der Wissenschaft mit ihrem Familienleben unter einen Hut zu bringen.
Kraft dafür schöpft sie nach ihren eigenen Worten immer wieder aus der großen Leidenschaft und Motivation für ihre Forschung.
Pitulescu kam 2002 nach Deutschland. Sie arbeitete fünf Jahre am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen bevor sie Anfang 2008 zu Ralf Adams Arbeitsgruppe kam. Damals war Adams Gruppenleiter am Institute of Cancer Research in London. Die britische Hauptstadt hat der jungen Forscherin gut gefallen, doch schon bald wechselte Adams nach Münster an das Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin. Pitulescu zog mit ihm zurück nach Deutschland. “Meine Zeit in London war leider nur kurz,” erzählt sie mit spürbarem Bedauern, “aber der Wechsel war ja absehbar, als ich zur Gruppe kam.” In Münster gefällt ihr besonders die Nähe zu anderen Forschungseinrichtungen wie der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) mit dem Exzellenzcluster Cells in Motion (CiM) und dem Zentrum für Molekularbiologie der Entzündung (ZMBE).
Die jetzt veröffentlichte Arbeit entstand in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Universität Giessen, der Osaka University (Japan) und der University of California San Diego (US).
Mara E. Pitulescu, Inga Schmidt, Benedetto Daniele Giaimo, Tobiah Antoine, Frank Berkenfeld, Francesca Ferrante, Hongryeol Park, Manuel Ehling, Daniel Biljes, Susana F. Rocha, Urs H. Langen, Martin Stehling, Takashi Nagasawa, Napoleone Ferrara, Tilman Borggrefe and Ralf H. Adams. Dll4 and Notch signalling couples sprouting angiogenesis and artery formation. Nature Cell Biology (17 July, 2017, epub ahead of print, DOI:10.1038/ncb3555)